Im Zustand der Verzauberung
Wie Immersion unsere innersten Überzeugungen verändert
„Katie Mason war ein lebhaftes, hübsches Kind von neun Jahren. Eines Tages besuchte sie zusammen mit ihrer Mutter Joan und ihrer sechsjährigen Schwester Christine ein Straßenfest in einem Nachbarort. Mit von der Partie waren auch Joans Freundin Susan Ricci, sowie ihre beiden eigenen Kinder, Laura und Timmy. (…) Katie und Laura waren beste Freundinnen, die zusammen die Ballettschule besuchten seit sie Drei waren. Als die kleine Gruppe gerade den Straßenverkauf der örtlichen Woolworth-Filiale passierte, begann die kleine Christine an der Hand ihrer Mutter zu zerren. Christine hatte auf der anderen Straßenseite Ponys erblickt und bettelte ihre Mutter an, sie dorthin zu bringen. Joan ließ Katie bei den Anderen zurück und machte sich, zusammen mit ihrer jüngeren Tochter, auf den Weg zu den Ponys. Gerade als sie den gegenüberliegenden Bürgersteig erreichten, hörte Joan von irgendwo her einen Tumult und dann den schrillen Schrei eines Kindes.„
Mit diesen Worten beginnt der Arzt und Sachbuchautor Sherwin B. Nuland die Geschichte der kleinen Katie. Was zunächst wie die Schilderung eines unbeschwerten Sonntagsausflugs klingt, verwandelt sich nach wenige Zeilen in einen blutigen Alptraum. Denn Katie wird auf offener Straße von einem Mann auf brutale Art und Weise mit einem Messer attackiert und ermordet. Bei dem Täter handelt es sich um den Insassen einer forensischen Psychiatrieklinik, der unter paranoider Schizophrenie leidet und der an diesem verhängnisvollen Tag für einige Stunden, Ausgang beantragt hat.
Die Wissenschaft der Geschichten
Katies tragisches Schicksal, von Nuland sehr bildhaft und detailreich in seinem Bestseller „How We Die“ nacherzählt, bildet die Grundlage für eine der wenigen Forschungsarbeiten, die es bis heute zur Wirkkraft von Geschichten gibt. Sie stammt von den beiden Sozialpsychologen Melanie C. Green und Timothy C. Brock. In ihrer Arbeit gehen die beiden Wissenschaftler der spannenden Frage nach, wie Geschichten wie die, der kleinen Katie, die Überzeugungen von Menschen verändern.
Ihre Erkenntnisse verdichten Green und Brock in einem Modell, das sie „Transportation-Imagery-Model of Narrative Persuasion“ nennen. Entscheidend für die Überzeugungskraft einer Geschichte ist demnach die Frage, ob sie es vermag, die Leser:innen in den Zustand der Transportation zu versetzen, argumentieren Green und Brock. Der psychologische Effekt der Narrativen Transportation trete dann ein, wenn man beim Lesen, Kraft des eigenen Vorstellungsvermögens, voll und ganz in einer Geschichte oder in einer Erzählwelt aufgeht und dabei die reale Welt, zumindest vorübergehend, hinter sich lässt.
Ist Immersion messbar?
Das Fundament für die Entwicklung ihres Modells bildete ein Experiment, das die beiden Forscher Ende der 1990er-Jahre an der Ohio State University durchführten. Zunächst befragten Green und Brock eine Reihe von Probanden zu ihren Einstellungen hinsichtlich problematischer Themen wie zum Beispiel zu der Frage, ob Psychiatriepatienten, Ausgang erhalten sollten. Danach gaben sie den Teilnehmenden eine leicht abgewandelte Form von Katies Geschichte zu lesen. Abschließend wurde den Versuchspersonen ein Fragebogen vorgelegt, der darauf abzielte, die Tiefe ihres Eintauchens auf einer Transportations-Skala zu ermitteln.
Die Analyse ergab, je mehr die Probanden durch die Geschichte mental transportiert wurden, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich einen Standpunkt aneigneten, der im Einklang mit der Geschichte stand – zum Beispiel, dass Psychiatriepatienten nicht ohne Aufsicht, Ausgang erhalten sollten. Nicht allen Befragten wurde vorab kenntlich gemacht, dass es sich bei der Geschichte der kleinen Katie um ein wahres Verbrechen handelte. Interessanter Weise hatte dieses Vorwissen jedoch keinerlei Auswirkung auf den Grad der Transportation.
J.R.R. Tolkien und „The Enchanted State“
Mit ihrer Untersuchung ist es Green und Brock gelungen, jenen Zustand messbar zu machen, den J.R.R. Tolkien mit dem Begriff „Enchanted State“ bezeichnet hat. In seinem Essay „On Fairy-Stories“ beschreibt der Schöpfer der Herr der Ringe-Trilogie eine Gemütsverfassung, in der wir von einer Geschichte so gefesselt sind, dass wir den Eindruck haben, in die Welt des Autors hineingeraten zu sein. Die Kraft dieser Art von Erfahrung gleicht laut Tolkien einer „Verzauberung“.
Für all diejenigen, die sich mit der Frage auseinandersetzen, wie man Überzeugungen, von Menschen ändern kann, sei es zum Erlangen politischer oder wirtschaftlicher Ziele, sind die Erkenntnisse von Greene und Brock und ihr Modell der Narrativen Transportation gleich in mehrfacher Hinsicht von Bedeutung. Gerade für das Feld der Marketingkommunikation, die klassischer Weise auf die Veränderung von Einstellungen und Verhalten abzielt, ergeben sich konkrete Anknüpfungspunkte, wie Geschichten beschaffen sein müssen, um Menschen in eine Markenwelt zu transportieren.
Dabei spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, die den Geschichtenerzähler, den Geschichtenempfänger und den situativen Kontext beziehungsweise das Medium betreffen durch das die Geschichte vermittelt wird. Schlüsselfaktoren für Brand Storyteller sind beispielsweise der Reichtum an Details, mit dem die Markenwelt ausgeschmückt wird sowie die Frage, ob die erzählte Geschichte in sich konsistent und dadurch glaubwürdig erscheint. Wem dies gelingt, schafft beste Vorausetzungen dafür, sein Publikum im Tolkienschen Sinne zu verzaubern.
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