„Amerikanische Verhältnisse“- ja bitte! Pläsoyer für mehr Personalisierung im Wahlkampf
Wahrscheinlich stimmen alle Erklärungsversuche ein bisschen. Europapolitik ist kompliziert zu vermitteln, weil (tatsächlich oder vermeintlich) weiter weg vom Alltag der Bürger, die Leute haben wenig Lust, sich in die Materie einzuarbeiten. Ich glaube aber, dass die Parteien den entscheidenden Fehler selbst machen, denn sie trauen ihren eigenen Programmen und vor allem ihren eigenen Kandidaten nicht zu, die Wähler zu begeistern. Stattdessen besetzen die altbekannten Gesichter wie Merkel, Müntefering und Westerwelle mit den altbekannten bundespolitischen Themen die Talkshowsitze und Wahlkampfbühnen. Aber gerade wenn die Inhalte unklar sind und für sich genommen nicht ziehen, gehören Menschen ins Rampenlicht, die sich für die Themen engagieren und die sie deshalb auch am besten erläutern können – die Europapolitiker selbst also. Die Schlagworte für einen besseren Wahlkampf lauten aus meiner Sicht: Personalisierung und Dialogorientierung.
Das Gerücht hält sich hartnäckig, dass EU-Parlamentarier in erster Linie abgehalfterte Bundespolitiker seien („Hast du einen Opa, dann schick ihn nach Europa“). Das kann man so sehen (Bütikofer, Bisky), doch sind mindestens ebenso viele Menschen auf den Parteilisten erfahrene Europfachleute (Pöttering, Schulz) oder junge Ein- und Aufsteiger (Koch-Mehrin, Giegold), die über Europa den Weg in die große Politik suchen. Diese Leute haben doch eine Lebensgeschichte und eine Motivation, sich politisch zu engagieren. Warum erfahren wir darüber so wenig?
Das Internet bietet heute die Chance, ohne großen Kostenaufwand ins Detail zu gehen. Während es früher praktisch nur drei Abstufungen an Wahlkampfmaterial gab (einseitiges Plakat/Flyer, mehrseitiges Leporello und dickes Wahlprogramm), ist die informationelle Tiefe eines Wahlkampfes heute theoretisch unendlich. Bisher werden vertiefte Informationen allerdings vor allem auf der sachlichen Ebene angeboten, über die Kandidaten finden sich auf den Wahlkampf-Webseiten der Parteien allenfalls steckbriefartige Informationen (s. SPD, Grüne, Linke). Manche Parteien verlinken vom Steckbrief auf die persönlichen Seiten ihrer Kandidaten, die aber nicht einheitlich strukturiert und gestaltet sind, wodurch der Gesamteindruck etwas zerfasert. Politiker anderer Parteien haben überhaupt keine persönlichen Webseiten oder Netzwerk-Profile oder diese werden nicht verlinkt (s. die Linke).
So bleibt es extrem mühsam, etwas über die Menschen hinter den Manifesten und Programmen herauszufinden.
Dialog
Das Internet ermöglicht aber nicht nur einseitige Kommunikation durch Veröffentlichung von Informationen, sondern eben auch den Dialog. An dieser Stelle ist der Wandel gegenüber zurückliegenden Wahlkampfzeiten wahrscheinlich noch eklatanter.
Früher war ein direkter Kontakt zum Kandidaten nur in Ausnahmefällen oder mit hohem Aufwand möglich. Man musste Bürgersprechstunden besuchen oder das Glück haben, den Kandidaten samstags in der Fußgängerzone am Infostand anzutreffen. Häufig war er dort aber bereits ins Gespräch mit einem älteren Herrn verwickelt, in das man sich aus Anstandsgründen nicht einmischen wollte und von dem man deshalb nur Wortfetzen („Rentenstrafrecht“, „Diätenabzocke“) mitbekam. Längere ernsthafte Gespräche mit dem Kandidaten waren in solchen Situationen kaum möglich und wenn, dann konnte jeweils nur ein Bürger mit dem Politiker reden.
Heute kann ein Kandidat über’s Internet eine Konversation mit einem oder mehreren Interessierten führen, die auch für andere offen und sichtbar ist – z.B. über Twitter. Jedermann kann mitlesen, per Hashtag (#) lässt sich der Dialog thematisch strukturieren. Ausführliche Briefwechsel lassen sich über z.B.abgeordnetenwatch.de führen und verfolgen.
Über diverse Web-Dienste (Skype, 1000mikes) lassen sich Telefon- bzw. Videokonferenzen oder Webcasts organisieren, in die sich jedermann live einschalten kann oder die später als Audiofile angehört werden können.
Per Meetup oder auch Facebook können Veranstaltungen und Treffen mit dem Kandidaten kollaborativ geplant werden.
Einwände gegen einen Strategiewechsel weg von den Inhalten und hin zu den Personen gibt es viele. Zum einen sind mit den angesprochenen Dialog-Werkzeugen im Moment nur Randgruppen zu erreichen. Doch diese Tools dürften sich zunehmend etablieren und wichtiger werden. Auch wenn das Internet auf absehbare Zeit nicht zum Leitmedium wird, so eignet es sich doch bestens zur Ergänzung und vor allem zur Vertiefung des persönlichen Eindrucks, der über die klassischen Medien gewonnen wurde.
Auch mag man die Personalisierung von Politik grundsätzlich für zweifelhaft halten und als „Amerikanisierung“ abtun. Ich glaube aber, dass es in einer immer unübersichtlicheren Welt ein gesunder menschlicher Impuls ist, Komplexität zu reduzieren, den Blick von den inhaltlichen Details abzuwenden und mit dem Bauch nach persönlicher Sympathie zu entscheiden. Im übrigen halte ich das auch für legitim: Ich möchte einfach wissen, wer da für mich in Straßburg sitzt und warum er dorthin will.
Außerdem, und das ist wohl der entscheindende Punkt, steckt in der Frage „Inhalt oder Person?“ ja in Wahrheit kein Gegensatz. Glaubwürdigkeit entsteht immer da, wo sich Person und Programm auf nachvollziehbare Weise ergänzen. Und dazu muss man eben nicht nur das Programm kennen, sondern auch etwas über die Personen wissen.