Der Videobeweis im Wahlkampf- eine Frage des Stils

Schon immer standen Politiker unter besonderer Beobachtung durch den Wähler. In Zeiten von Handykameras und Youtube müssen sie sich aber darauf einrichten, dass jede Widersprüchlichkeit, jedes falsche Versprechen, jede Lüge von jedermann aufgezeichnet und verbreitet werden kann. Diese neue Transparenz hat Folgen für die politische Streitkultur.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gerade kürzlich musste NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers bei einer Rede in Duisburg die leidvolle Erfahrung machen, dass er eben nicht allein zu den Teilnehmern einer Wahlkampfveranstaltung spricht, sondern dass potentiell die ganze Welt zuhört. Als er über die angeblich schlechte Arbeitsmoral von Rumänen herzog, wurde dies von einem Zuschauer per Videokamera aufgezeichnet und bei Youtube eingestellt. Verärgerte Reaktionen aus dem In- und Ausland waren die Folge, Rüttgers musste öffentlich Reue zeigen.

In Wahlkampfzeiten wurmt das die NRW-CDU natürlich besonders, und sie holt zum Gegenschlag aus. Inzwischen wurde eine Produktionsfirma angeheuert, die bei Wahlkampfauftritten von SPD-Landeschefin Hannelore Kraft potentiell kompromittierendes Videomaterial sammeln soll. Die CDU spricht von  „professioneller Gegnerbeobachtung“, Grünen-Geschäftsführerin Lemke von „Stalking“.

 

 

In den USA gab es schon im Jahr 2006 einen Fall, dessen Parallelen zur Rüttgers-Rede frappierend sind. Senator George Allen stürzte damals über eine (ebenfalls rassistische) Verunglimpfung eines Wahlkampfbeobachters aus dem Gegenlager, der Allens Auftritte regelmäßig mit der Kamera begleitete. Als Allen den indischstämmigen Mann zum wiederholten Male im Publikum erblickte, sprach er ihn als „Macaca“ an, was die Bezeichnung für eine nordafrikanische Affenart und zugleich ein Begriff ist, der unter französischen Kolonialherren in Afrika als abwertende Bezeichnung der dunkelhäutigen Einheimischen verwendet wurde. Allen entschuldigte sich zwar später für seine Wortwahl, doch wurde der Fall in den gesamten USA diskutiert und trug nach allgemeiner Auffassung zur Wahlniederlage Allens bei.

 

 

Auch Ursula von der Leyen hat womöglich unterschätzt, welch gefährliches Instrument das Internet im politischen Wettbewerb sein kann. Und das, obwohl sie schon seit Längerem vor den Gefahren des Netzes warnt. Mit ihrer Gesetzesinitiative für Internetsperrungen von Kinderpornoseiten ist sie bekanntlich gegen angeblich „rechtsfreie Räume im Internet“ vorgegangen. Bürgerrechtsbewegte Netzaktivisten kritisieren ihr Vorgehen heftig und sprechen von Zensur. Als von der Leyen dann kürzlich bei einer Wahlkampfrede im Saarland dabei gefilmt wurde, wie sie die Sperrungen mit recht populistischen Argumenten verteidigte, liefen die User bei Netzpolitik.org Sturm angesichts solcher „Demagogie“ (über 400 Kommentare im Blog).

Jüngstes Beispiel für einen per Youtube-Film ausgelösten Aufreger ist das Polizei-Prügel-Video, das auf der „Freiheit statt Angst“-Demonstration am vergangenen Wochenende in Berlin entstand. Ohne ersichtlichen Grund wird darin ein Demonstrant von Polizisten geschlagen. Da es sich um eine Demo von Netzaktivisten handelte, verbreitete sich das Video mit rasanter Geschwindigkeit und wurde mit großer Leidenschaft in den Blogs diskutiert.

Angesichts dieser Häufung von Skandalen, die anhand von „Videobeweisen“ überhaupt erst öffentlich wurden, lohnt es sich, über die Folgen der „neuen Transparenz“ einmal vertieft nachzudenken. Sicher war es in jedem der genannten Fälle gut und richtig, dass die Verfehlungen der Amts- und Würdenträger ans Licht kamen. Ich frage mich allerdings, ob durch die Omnipräsenz von Videokameras der politische Streit nicht übermäßig aufgeheizt wird. Wenn sich politische Gegner nur noch mit gezückter Videokamera gegenüberstehen, ist zivilisierter Umgang miteinander von vornherein ausgeschlossen. Man muss sich das Prügelvideo einmal genau anschauen und mitzählen, wie viele Demonstranten eine Kamera tragen – und das ausgerechnet auf einer Demo gegen Überwachung! Und die Polizei filmte natürlich zurück, wie in Minute 1:15 zu sehen.

 

Angesichts dieser Eskalation des Meinungskampfes tut es ganz gut, wenn man im Netz gelegentlich Angebote entdeckt, die Politiker auf ganz klassische Weise bloßstellen, indem sie sie mit ihren Wahlversprechen konfrontiert. Womöglich stört den Bürger an seinem Abgeordneten ja viel weniger dessen Meinung als vielmehr die Tatsache, dass der diese Meinung aus Opportunitätsgründen so häufig ändert. Solche Fälle aufzudecken, ist eine neue Monitoring-Plattform mit dem Titel Wahlversprechen.info  angetreten. Hier werden Aussagen von Politikern und Parteien vor Wahlen gesammelt und festgehalten – ein „kollektives Langzeitgedächtnis“ für Wahlversprechen also.

 

 

Damit sind die Wähler für den Wahlkampf bestens gerüstet. Am Infostand dem Kandidaten statt der Kamera einfach mal sein „Geschwätz von gestern“ vorhalten – auch das wirkt. Und es hat Stil.

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